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Rapunzel Märchensalat

Am Anfang war der Feldsalat

Als ich noch klein war, mochte ich das Märchen von Rapunzel.
Auch heute finde ich die Qualitäten dieses lieblichen Mädchens nicht von der Hand zu weisen: Langes, festes Haar ohne Spliss – und spätestens seit Disneys Adaption ein schöner Kopf als liebliche Basis, auf der tonnenweise pastellfarbene Blümchen Platz finden. Welches Mädchen möchte nicht so schönes Haar haben? Rapunzel ist sinnlich und jugendhaft, das Mädchen, das von der herrischen Zauberin befreit und irgendwie so durch Dinge, die so nicht geplant waren, dann doch IRGENDWIE SO zur Frau gemacht wird.

Aber Moment.
Herrische Zauberin?
Hier müffelt’s doch gar lieblich nach schweren Gegensätzen.
Also genau sagen die Gebrüder Grimm nicht, wie alt die Dame ist. Wir erfahren jedoch, dass sie Eigentum besitzt: Ein Stück Land, auf dem Rapunzeln (Feldsalat) wachsen,welche für Rapunzel (schicksalbeladenes Mädchen, nicht der Feldsalat) und ihre Mutter folgenschwere Konsequenzen bargen – sowie mindestens einen Turm, in welchem das Mädchen aufwuchs und Haarpflege betrieb. Also: Frau Zauberin war mindestens Eignerin eines Turms und eines Hauses – und alle hatten Schiss vor ihr. Wenn man jetzt auch noch bedenkt, dass die Zeit der Märchen und der Gebrüder Grimm eine Gesellschaft der Männer war, dann ergibt sich der Eindruck, dass die Dame eher von der emanzipierten Art gewesen ist und ein Störenfried im Angesicht der Dorfgemeinschaft/Gesellschaft. Mit alten, reichen, einflussreichen Witwen kam die Gesellschaft klar, aber mit unverheirateten, selbstbestimmten Frauen? So sollte Rapunzel nur der Zauberin gehorchen, ganz das artige Kind sein, wie es dem Familienmodell dieser Zeit entsprach. Individualismus und Selbstbestimmung sind ja nun eine Erfindung der Moderne oder derer mit Reichtum Beladenen und spätestens seit den 1960/70er Jahren kaum noch als Normalität hinterfragt. Daher komme ich doch ein wenig ins Grübeln, dass eine selbstbestimmte, starke Frau, die als einzige Bezugsperson in einer gewollten Mutterrolle das Leben des Mädchens nach den Vorbildern der Gesellschaft erzieht, nun doch die Böse war.


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Was möchten uns die Grimms denn da eigentlich sagen?

Zu Beginn meiner Studienzeit gab es eine Vorlesung, zu der eine Märchenerzählerin der Gebrüder Grimm Gesellschaft eingeladen war. Diese erzählte auf professionelle Weise verschiedene Märchen und erläuterte auch einige Hintergründe. Was mich überraschte: Die Grimms hatten eine liebevolle Mutter. Doch in den alten Märchen und Sagen waren es oft die Mütter oder Väter, die den Kindern schlechte Dinge antaten oder abverlangten. Da dies weder in das Mutterbild der Grimms noch das der christlichen Gesellschaft passte, übernahmen die Rolle des Bösewichts stets Zauberinnen, Hexen und böse Stief- oder Ziehmütter – oder seltsame böse Zwerge oder ähnliche.
Bei Rapunzel ist der Kern des Märchens das Fehlverhalten einer Mutter, die durch Zwang und Wegsperren das Kind vor der schlechten Welt bewahren will und so für die Welt unerreichbar macht – in einem Turm. Da jedoch eine Mutter dies nicht tut, sondern Kinder von ihren Müttern immer geliebt und niemals gezwungen und weggesperrt werden, übernimmt den Part eine Zauberin/ Ziehmutter, denn diese hat natürlich nicht die gleiche huldvolle Bindung zum Kind, wie eine leibliche Mutter. Natürlich.
Ihre Eigenschaften sind vielmehr diese:
Herrische Mutter: Es wird gemacht, was ich sage.
Herrisch Zauberin: Du gehorchst nur mir und gibst keine Widerworte, denkst nicht nach und hinterfragst mich nicht.
Herrisch Mutter und Zauberin: Alles ist gut, wenn Du meine Regeln befolgst.

So wirklich unterscheiden sich diese Ansprüche und Forderungen ja nicht von denen, die Eltern generell an ihre Kinder stellen, bzw. wie sich eine Gesellschaft eine funktionierende Erziehung vorstellt.
Rapunzel darf eben nicht draußen mit all den anderen Kindern spielen – doch bis auf diese Isolation und extrem wichtige Fähigkeit, soziale Kontakte und Bindungen herzustellen, scheint das Mädchen glücklich. In der Realität benötigte es da keiner bösen Stiefmutter oder Zauberin, denn wurden zum Erhalt der Tugend und Anständigkeit Mädchen und Frauen nicht stets unterwürfig und separiert und ohne Zugang zu höherer Bildung erzogen, nie mit anderen allein, nicht einmal mit den eigenen Gedanken, stets unter Aufsicht, nur notwendigst gebildet?


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Der Verlust der Tugend bei Mutter und Kind – der Prinz war schon so.

Rapunzel sang so schön, dass einst ein Prinz, der ihre liebliche Stimme hörte, bis zu ihrem Turm fand und dort, in den Schatten der Bäume verträumt vor sich hinsinnend, mit ansehen konnte, wie die Zauberin zu Rapunzel in den Turm gelangte.
Als die Alte fort wahr, sprach er ebenfalls die Worte: „Rapunzel, lass Dein Haar herunter!“ und stellte sich Rapunzel vor.
Was folgte:
Ungehorsam: Rapunzel verheimlicht der Zauberin/Mutter anfänglich, dass sie Besuch empfangen hatte. Sie traut sich nicht, dies zu sagen, da sie Angst vor den Konsequenzen hat.
Verlust der Unschuld: Als sich Rapunzel verplappert, sie wäre so gern die Frau des Prinzen, gerät die Zauberin außer sich – und das Drama beginnt erst wirklich. Sie verbannt das Mädchen in die Ödnis, wo schnell klar wird, dass es mit dem Prinzen wohl auch beim ersten oder zweiten Treffen nicht so keusch zuging. Rapunzel trägt Zwillinge. Hier fragt sich: Wer ist denn nur der Eindringling? Rapunzel hatte vermutlich von Sex keine Ahnung, der Prinz scheinbar schon.
Heimtücke und Mordversuch:
Die Zauberin überlistet den Prinzen, der am wallenden Haar den Turm emporklettert, oben jedoch nur die lauernde Zauberin vorfindet. Diese stößt Ihn den Turm hinab, wo er von Hecken aufgefangen zwar nicht das Leben, jedoch das Augenlicht dank der kratzenden Dornen verliert.


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Rapunzel – jetzt hamwa den Salat!

Am Ende sieht es doch so aus:
Eine Frau, die keine Kinder bekommen konnte, erschlich sich eines durch einen listigen Handel und zog das Kind unter strenger Obhut, jedoch mit Fürsorge auf eine narzistische Art und Weise auf – dem Kind fehlte es (fast) an nichts.
Ein Kind, dass keine andere Möglichkeiten hatte, war von Anfang seines Lebens hin bis zum Ende dieser schönen Geschichte dem Willen anderer ausgeliefert: Es wurde verkauft, verbogen und erzogen, benutzt im Namen der Liebe und Sorge – und galt trotz seines Ungehorsams, seiner verlorenen Unschuld und Tugend als Heldin und braves, liebes Mädchen. Am Ende wurde alles gut, sie erhielt den geachteten, gesellschaftlichen Aufstieg.
Ein Prinz, der durch das eigene Verlangen Mutter und Tochter entzweit und alle ins Verderben stürzt, ist am Ende doch der Held, der das ungerecht gestrafte Mädchen rettet und zurück in einen tugendhaften, respektierten Status als Mutter, Ehefrau und zunkünftige Königin versetzt.
Für mich klingt das alles nach einer guten Partie Ping Pong.

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